Tianxia #26: Samurai – Tenka – Ninjo vs. Giri

Der härteste Gegner eines Samurai ist er selbst.

 

Da kann das Katana noch so scharf geschliffen, das Kenjutsu noch so vollendet sein – seinen inneren Dämonen kommt er damit kaum bei. Im Chanbara-Genre geht es bei einem Kampf um viel mehr als nur darum, den Gegner zu töten. Im Überwinden des Feindes mit Waffengewalt spiegeln sich andere Konflikte wider. Klar, wenn ein Samurai ein paar Löcher in die Schergen eines Clanlords schlägt, dann muss es nicht mehr bedeuten als genau das, was es ist. Aber gerade in den Abschlussduellen verdichten sich Rachegefühle, Ehrenkodex, Standesaspekte und gemeinsame Vorgeschichte zu einem Konflikt, an dem der Samurai persönlich wachsen kann.

 

Dass Samurai vor Kompetenz und Eigeninitiative nur so strotzen – das ist in den anderen Artikeln schon deutlich geworden. Nun müssen unsere Helden nur noch dramatisch werden. Das übernimmt die Mutter aller Chanbara-Konflikte: Der Konflikt zwischen Ninjo und Giri, zwischen dem, was ein Samurai fühlt, und dem, was er zu tun verpflichtet ist. Solche Gefühle sind natürlich nichts Greifbares. Auch einem Samurai kann man nur vor den Kopf schauen. Oder besser: Ins Gesicht.

Der Kampf der Gesichter

Ich habe im vorherigen Artikel schon einmal auf das Gesicht (jap. Mentsu) hingewiesen. Das Gesicht ist die persönliche Ehre und Würde, die man nach außen präsentiert. Die Wahrung eines gesellschaftlichen Grundkonsens, der Harmonie (jap. Wa, 和), ist von immenser Bedeutung für die Japaner. Das geht so weit, dass in Japan schon das Wort „Nein“ als harsch wahrgenommen wird. Will man eine Verabredung absagen, behilft man sich damit, „ein bisschen zuzusagen“ – man würde nichts lieber tun, aber die Umstände sind ungünstig. Taten und Worte werden immer umsichtig ausgewählt, um das System nicht ins Wanken zu bringen. Das beinhaltet auch, andere nicht mit den eigenen Schwierigkeiten und Gefühlen zu belasten.

 

An dieser Stelle muss ich etwas zurückrudern: In Bezug auf die asiatische Kultur ist es nicht sinnvoll, nur von dem einen Gesicht zu sprechen. In der Gesellschaft Japans gibt es noch einen anderen Lebensbereich, eine Art Gegenraum zu Tradition und Öffentlichkeit. Bildlich gesprochen stehen sich in der Seele eines Chanbara-Helden zwei Gesichter gegenüber – und das eine streckt dem anderen öfter mal die Zunge raus. Ich spreche von Honne (本音, jap. für „echter Klang“) auf der einen Seite und Tatemae (建前, jap. für „Fassade“) auf der anderen Seite.

 

Honne ist der private Raum, der die wahren Gefühle und Bedürfnisse eines Menschen beinhaltet. Ein Samurai würde sein Honne nur mit seinen intimsten Vertrauen teilen. Es ist das was er eigentlich fühlt und eigentlich ist. Demgegenüber ist Tatemae das öffentliche Gesicht, verbunden mit den traditionellen Erwartungen und Pflichten des eigenen Standes. Honne und Tatemae können übereinstimmen, in der Regel überspielt Tatemae aber Honne, etwa in Form eines neutralen oder sanft lächelnden Gesichtsausdrucks. Übrigens: Auch in China kennt man das Prinzip des inneren (Honne) und äußeren Gesichts (Tatemae).

 

 Tianxia-Stil: Honne/Ninjo und Tatemae/Giri als Aspekte

Die Konzepte Honne und Ninjo bzw. Giri und Tatemae bieten sich natürlich wunderbar als eigene Aspektkategorien an, vor allem, weil sie einander so schön ausschließen. Der Giri-Aspekt würde also das besondere Verhältnis des Samurai zu seinem Clan, Daimyo oder Kaiser beschreiben. Er könnte ebenso die Mission oder das Pflichtgefühl des Samurais umreißen. Der Ninjo-Aspekt bezieht sich hingegen auf die wahren Gefühle des Samurai – das was er liebt, wofür er brennt oder was er sich im Geheimen wünscht. Vielleicht ist das eigentlich schon Dilemma genug, womit die gleichlautende Aspektkategorie u.U. wegfallen kann.

 

 

Der Giri-Ninjo-Konflikt

Honne und Tatemae, klingt ja gut, doch was ist mit der Umsetzung. Samurai sind schließlich keine Aufziehsoldaten, die ungerührt in Dauerschleife ihre Pflichten ausführen – das wäre ja auch langweilig. Die dünne Linie zwischen öffentlichem und privatem Selbstverständnis wird daher in Chanbara-Geschichten (und überhaupt fast allen japanischen Geschichten) absichtlich verwischt. Heraus kommt das, was in der Erzähltheorie als der Giri-Ninjo-Konflikt bekannt ist: Ein Zwiespalt zwischen Gehorchen und Fühlen, Tradition und Individualität. Die beiden Prinzipien Ninjo und Giri lassen sich dabei eng mit Honne und Tatemae in Zusammenhang bringen. Also, stellen wir die Kontrahenten vor.

 

In der roten Ecke: Ninjo!

Ninjo (人情) steht für das Gefühl: Das Wort besteht aus den Schriftzeichen für „Mensch” und „Emotion” bzw. „Umstände”, es steht demnach für das Allgemein-Menschliche. In Samuraigeschichten, die den Giri-Ninjo-Konflikt ausbreiten, schließt Ninjo an das Honne an – die wahren Gefühle, die der Samurai ob seinem sozialen Stand nicht zeigen kann. Mitgefühl und Ehrlichkeit, zwei der acht Tugenden des Bushido, kann man ebenfalls mit dem Ninjo in Zusammenhang sehen.

 

In der blauen Ecke: Giri!

Den Gegenpart zu Ninjo bildet Giri (義理). Da steckt ja bereits das Gi (義) aus dem Bushido drin, das zweite Zeichen verweist auf „Logik”, „Wahrheit” oder „Verabredung”. Also: „Verabredung der Pflicht”. Das soziale Gefüge des feudalen Japan verlangt von einem Samurai die absolute Treue gegenüber seinem Clansfürsten, dem Daimyo – bis in den Tod.  Außerdem ist der Samurai ein Repräsentant seines Standes – selbst dann, wenn er ein herrenloser Ronin ist – und muss sich entsprechend öffentlich gebaren, um keine Schande auf sich zu ziehen. Giri drückt diese unbedingte Treue zur Tradition aus und geht mit dem Tatemae Hand in Hand.

 

Fight!

In Samuraidramen stehen Ninjo und Giri grundsätzlich auf Kriegsfuß. Der soziale Druck, sich dem rigiden Ständesystem und dem Bushido gegenüber stets konform zu verhalten, lastet bereits schwer auf den Samurai. Wenn dann noch der Daimyo eine Anweisung gibt, die den Gefühlen des Samurai absolut zuwiderläuft, wird die Geschichte zum tragischen Selbstläufer. Oft ist eine weitere Person mit im Spiel, die die Gefühle in dem Samurai auslöst – undenkbar im feudalen Japan, dass emotionale Beziehungen seine Pflichten vernachlässigt und den guten Namen seines Clans beschmutzt. Bei Standesunterschieden wird es besonders heikel: Ein inniger Umgang mit Menschen aus niederen Ständen, den Heimin (also Bauern, Handwerkern, etc.) oder gar den als unrein empfundenen Eta (Metzger, Heiler, Totengräber und andere Berufe, die mit Blut, Fleisch und Tod arbeiten) geziemt sich für den Schwertadel keinesfalls.

 

 Tianxia-Stil: Got My Ninjo Working

Ein gefühlsduseliger Samurai kann sich einer ganzen Reihe an Verfehlungen schuldig machen, die an seiner Ehre nagen. Das Chanbara-Genre ist voll davon. Hier daher nur ein paar Beispiele:

  • Unstandesgemäße Liebe (z.B. ein Samurai, der leidenschaftlich einer Reisbäuerin verfällt)
  • Mitgefühl mit Schwächeren (z.B. ein Samurai, dem die geschröpften Leibeigenen unter der Knute seines Daimyos leid tun)
  • Freundschaft mit dem Feind (z.B. ein Samurai, der innige Dankbarkeit gegenüber einem Mitglied eines verfeindeten Clans hegt)
  • Gerechtigkeitsinn (z.B. ein Samurai, der einen zu Unrecht verurteilten Verbrecher, gegen die Autoritäten in Schutz nimmt)
  • Rachedurst (z.B. ein Samurai, der den Tod eines geliebten vergelten will, auch wenn das seinem Fürsten widerstrebt)

Derartige Probleme lassen sich natürlich auch wunderbar in einem Dilemma- oder einem Honne/Ninjo-Aspekt unterbringen (siehe oben).

Ronin und Giri

Liegt daran etwa Reiz, ein wandernder Ronin zu sein? Ohne eine konkrete Verpflichtung gegenüber einem Lehensherren, kann so ein ungebundener Samurai doch zu seinen Gefühlen stehen, oder? Würde man denken. Aber der Bushido und die soziale Prägung des feudalen Japans schüttelt man nicht so einfach ab. Giri umfasst alle sozialen Klassen und selbst den flohgeplagtesten Landstreicher von einem Ronin wird ein pflichteifriger Bauer wie einen Fürst behandeln.

 

Seiner alten Rolle ist der Ronin also immer noch ein stückweit verpflichtet – sie hat ihn ja sein ganzes Leben lang begleitet. Vielleicht ist ein Giri-Ninjo-Konflikt in der Vergangenheit sogar für das Ronin-Dasein des Charakters verantwortlich: Ein Samurai kann sich entscheiden, Clan und Lehnsherr nach schwerer Schande zurückzulassen, statt Seppuku zu begehen. Diese alten Wunden können natürlich jederzeit wieder aufreißen. Doch womöglich zieht der Ex-Samurai auch Kraft aus seinen früheren Gefühlen – Rückblenden (vgl. Fate-Handbuch, S. 65) bieten sich da zum Beispiel an.

 Ken-Geki-Stil: Ninjo Attack!

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, Giri-Ninjo-Konflikte regeltechnisch ins Spiel einzubinden, am einfachsten sicher über die Honne- und Tatemae-Aspekte.

Eine etwas aufwändigere Variante wäre eine Ehre-Stressleiste. Die Anzahl Stresskästchen basiert auf dem Chi des Charakters. In einer Szene, wo der Samurai hin- und hergerissen ist zwischen Pflicht und Gefühl, entspinnt sich ein Wettstreit oder kurzer Konflikt. Die Situation oder die daran beteiligten Charaktere (man denke an erbarmungswürdig flehende Bauern oder die Verlockungen eines attraktiven Partners) greifen den Samurai mit Provozieren, Charisma oder sogar Empathie an, der Samurai verteidigt mit Chi oder Wille. Stress sind diese kleinen, goldenen Risse in der Ehre des Samurais, denn seine Emotionen kochen hoch. Konsequenzen sind dann echte unehrenhafte Taten, die der Samurai begeht. Hier sollte die SL-Fate-Punkte springen lassen, um den Spieler zu Handlungen entgegen seinen Clans-Pflichten zu bewegen.

Auch eine Idee ist, dem Spieler zuzugestehen Ehre-Konsequenzen anstelle von Körperlichen oder Mentalen Konsequenzen zu nehmen. Der Haken: Der Spieler muss beschreiben, wie der Charakter etwas Unehrenhaftes tut oder zur Schau stellt, um den Stress loszuwerden.

Geheilt werden Stress und Konsequenzen durch bußfertige Taten für den Clan oder den Daimyo. Wenn ihr mit Extremen Konsequenzen spielt, ist der Aspekt, der umzuschreiben ist, definitiv derTatemae-Aspekt. Der nimmt nämlich unwiderruflich Schaden und könnte sogar ein Schicksal als Ronin oder Seppuku-Leiche nach sich ziehen.

Letztlich liegt es immer in der Hand des Spielers, wie sein Samurai den Bushido für sich auslegt und welche Gefühlsregungen ihn in Sinnkrisen stürzen. Im klassischen Chanbara schubst das Giri-Ninjo-Dilemma seine Protagonisten eine tragische Abwärtsspirale hinunter. Endstation: Exitus – wahlweise durch das eigene Schwert im Seppuku oder die Schwerter seiner Feinde und ehemaligen Verbündeten.

 

Muss aber natürlich nicht so laufen. Ein bisschen Giri-Ninjo-Beef kann genausogut eine starke Motivation sein, die eigene Kampfkunst zu schulen – damit man das System, das einen unterdrückt, umso gekonnter kurz und klein hauen kann.

 


Tenka, die grobe Übersetzung für Tianxia ins japanische.
Tenka ist die Überschrift einer Artikelreihe die sich mit dem Gedanken befasst die Tianxia-Regeln für japanisch inspirierte Hintergrundwelten zu nutzen.
Wer an Legends of the Five Rings mit Fate Regeln denkt ist hier also goldrichtig.
Hier findest du alle früheren Blog-Artikel zu Tianxia und hier alle zur Themenserie Tenka.

 


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