Ein erster Blick auf Oubliette

Vor einem Jahr berichteten wir über den Kickstarter „Oubliette – second edition“, und nun ist es bei DriveThru als PDF, Soft- und Hardcover erhältlich (Die erste Edition hatte noch ein eigenes System, während die zweite auf Fate Core aufbaut). Geplant war zwar September 2016, aber das erschien mir von Anfang an recht optimistisch und es ging dann auch wohl so einiges schief (Murphy’s Law eben). Gleichwohl muss man seinen Hut ziehen, denn Joe Bush hat Oubliette nicht nur entwickelt und geschrieben, er hat auch gelayoutet und zeichnet für das Artwork verantwortlich.

Der äußere Eindruck

Erwartet hatte ich eigentlich etwas im Umfang von 100 bis 200 Seiten und daher die Softcoverversion gewählt. Am Ende sind es fast 400 Seiten geworden! Dafür sind dann aber auch alle Regeln enthalten, dass heißt streng genommen benötigt man kein Fate Core Regelwerk. Layout, Grafiken und Text gefallen (Auf Drivethru gibt es auch eine Vorschau) und die Kapiteleinteilung ist auf bis zu vier Ebenen kleinteilig und wirkt gut strukturiert. Erfreulicherweise sind im PDF alle Verweise (und von denen es über 1600 gibt) verlinkt. Das ist teilweise auch wirklich deswegen nötig, weil viel auf erst später im Buch eingeführte Begriffe, Orte oder Personen verwiesen wird. Ein paar Tippfehler sind natürlich enthalten, aber nur in einem Rahmen, der sich üblicherweise nicht vermeiden lässt. An echten Fehlern ist mir nur aufgefallen, dass im Beispielcharakter in der Charaktererschaffung zwei Stresskästchen zu viel sind. Bei dem Umfang gehe ich aber allein aus statistischen Überlegungen heraus davon aus, dass noch ein paar mehr Fehler enthalten sind, aber man merkt eben, dass sehr gründlich Korrektur gelesen wurde.
Das physische Buch ist übliche print-on-demand-Qualität, d. h. Die Bilder sind nicht so brillant, wie man es sich vielleicht wünschen würde, aber das Buch ist sauber gearbeitet und die Bilder haben die richtige Helligkeit.

Einführung

Die ersten zwei Kapitel geben eine kurze Einführung in das Setting und was man darin spielen kann. Oubliette ist eine riesige Schlossstadt, aus der es kein Entkommen gibt. Selbst der Tot bieten kein Ausweg, da jeder nach seinem Tod an anderer Stelle in Oubliette wieder auftaucht. Das ist aber nur auf den ersten Blick eine tolle und praktische Sache, denn Hunger, Schmerz und Leid sind nach wie vor real. Viele gehen daran zu Grunde und vegieren nur vor sich hin, um immer wieder zu sterben und wiederzukommen. Die meisten Einwohner sind Menschen aus dem europäischen Mittelalter, aber auch andere Epochen und andere Wesen sind vertreten, die allesamt nicht wissen, wie oder gar warum sie nach Oubliette gekommen sind. Das Ergebnis ist im Wesentlichen eine Fantasy-Welt.

Wer lebt in Oubliette?

Das folgende Kapitel gliedert die Bewohner Oubliettes nach verschiedenen Kategorien. Zunächst unterscheidet man die „Broken“, die an ihrem Schicksal zerbechen, und die „Unbroken“, die ihr Dasein in die Hand nehmen. Dann werden die zehn Kasten erklärt, die streng hierarchisch sind. Die Vermutung, die sich hier aufdrängt, wird leider erst viel später im Buch bestätigt, dass die Kaste nämlich mit dem Maximalwert in den Fertigkeitssäulen korreliert. Für sich erscheinen die Grenzen gerade zwischen den sehr hohen Kasten schwammig. Es folgt eine Vielzahl von verschiedenen Rassen mit alten Bekannten und Neuschöpfungen. Die meisten Bewohner gehören zudem einer Fraktion an, von denen auch eine beträchtliche Zahl vorgestellt wird. Rassen und Fraktionen beinhalten jeweils auch Beispielstunts.

Charaktererschaffung

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Charakter-, Gruppen- und Spielerschaffung, die im Kern natürlich aus Fate Core bekannt sind.
Es wird auch explizit die Möglichkeit gegeben, in einer bestimmten Kaste zu starten, wobei die höheren Kasten nicht einfach durch strenge Meilensteinprogression errechnet werden, sondern auch jeweils eine Fertigkeitspyramide haben, die dann im Falle von sehr hohen Kasten „unten“ Luft haben. So hat die Kaste „Eminent“ z. B. Fertigkeitswerte von 4 bis 8 in Form einer Pyramide.
Doch die größte Besonderheit sind die Fertigkeiten. Anstatt der Fertigkeitenliste aus Fate Core oder einer moderaten Anpassung derselben, gibt es vier verschiedene Fertigkeitenlisten mit jeweils rund zehn Fertigkeiten. Je nach der Richtung, der man das Spiel geben möchte, wählt die Gruppe zu Beginn zwei Gruppen aus, aus denen wiederum jeder Spieler seine Fertigkeitspyramide (oder -Säulen) aufbaut.

Der Wahl der Charakteraspekte ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Das sechste Kapitel stellt die drei stets vorhandenen Fertigkeiten Kraft, Wille und Ressourcen vor, zu denen jeweils auch eine Stressleiste gehört, sowie die Fertigkeiten der vier Fertigkeitslisten, jeweils mit vielen Beispielstunts. Interessanterweise folgen nicht so viele Stunts den gängigen Schablonen und viele Stunts verbrauchen mehrere (bis zu vier) Punkte Erholung. Der Einfluss der Fertigkeiten auf die Stressleiste wurde gegenüber Fate Core verändert: Die zusätzliche leichte Konsequenz gibt es erst ab +6, eine zweite dafür ab +10.

Die „Arts Martial“-Liste beinhalt zehn Fertigkeiten rund ums Kämpfen. Das ist ungewöhnlich für Fate, aber immerhin haben einige auch Anwendungsmöglichkeiten außerhalb des Kampfes im Rahmen des Überwindens. Dies gilt insbesondere für die verschiedenen Formen der Magie, die sich auch in dieser Fertigkeitenliste finden. „Arts Professional“ fächert Wissen breiter auf. Die restlichen Fertigkeiten, die man aus Fate Core kennt, teilen sich auf „Arts Subtle“ und „Arts Social“ auf, die jeweils noch um zusätzliche Fertigkeiten ergänzt sind wie „Entertain“ oder „Scavenging“, da in Oubliette Nahrung und erst recht höhere Güter knapp sind.

Die Regeln

Kapitel sieben beinhaltet die Regeln zum Einsatz der Fertigkeiten (Wurf, die vier Aktionen, die vier Ergebnisse, Wettkämpfe, Konflikte, Herausforderung) sowie die Zeiteinheiten (Szene, Austausch etc.) und die Regeln rund um die Meilensteine. Das schafft Oubliette auf zwanzig Seiten angenehm kompakt.

Die Welt

Die nächsten 60 Seiten stellen die verschiedenen Stadtteile und deren besonders herausstechenden Bezirke oder Orte vor. Hier finden sich relativ „normale“ Stadtteile mit normalen Bauten, Umweltbedingungen und geordneten Verhältnissen. Es gibt aber auch wildere, gefährlichere oder einfach bizarre Gegenden.

Spielleitung

Das neunte Kapitel gibt auf rund zwanzig Seiten ein paar Tipps für die Spielleitung bzgl. Fate Punkten, NPC, Abenteuerstruktur etc. Außerdem werden einige optionale Regeln präsentiert.

Anhang

Der Anhang umfasst 160 Seiten. Neben ein paar Zufallstabellen findet man dort vor allem ein detailliert ausgearbeitetes Bestiarium mit fast 300 Personen und Wesen, jeweils mit Stunts und Aspekten. Selbst die mickrigsten Wesen haben Aspekte bis z. B. zu „Magnum Tenebrosum“ mit acht Aspekten, maximalem Fertigkeitswert +11, 15 Stunts etc. Praktischerweise gibt es Listen, um der/die/das passende sortiert nach Stadtteil, Kaste, Rasse oder Fertigkeitengruppe zu finden (Hier macht es sich wieder bezahlt, dass das PDF mit Hyperlinks arbeitet.). Stress und Konsequenzenslots folgen nicht einfach der modifizierten Regel für SC, sondern es gibt zusätzlich ein „Focus Chart“, in dem diese (ebenso wie Erholung und maximale Fertigkeitswerte) je nach Bedeutung des NSC für das Spiel modifiziert werden. Während in Fate Core NSC in drei Klassen unterteilt werden, sind es hier sechs.

Es folgt so etwas wie ein geschichtlicher Abriss und von der Spielleitung einsetzbare zukünftige Ereignisse.
Abgeschlossen wird das Buch mit einigen (wahlweise) Wahrheiten, Legenden oder Lügen über die Herkunft und tieferen Zusammenhänge von Oubliette.

Fazit

Ich habe Oubliette nicht gespielt, kann hier also nur nach Aktenlage urteilen, aber bereits die ist beeindruckend. Der Autor schafft es, eine vielschichtige und -seitige, kafkaeske Fantasywelt zu beschreiben. Die nötigen Fate Regeln sind gut und vor allem kompakt dargestellt – für abolute Fate-Neuling vielleicht etwas zu kompakt, aber immer noch besser, als einem Einsteiger Fate Core in die Hand zu drücken. Die wahre Stärke von Oubliette ist aber sicherlich der detailliert ausgearbeitete Hintergrund in Form von Orten, Wesen und Fraktionen. Auch die unglaubliche Menge (>400) an Beispielstunts in den Fertigkeitslisten und im Bestiarum sind eine tolle Sache – und sei es nur als Fundgrube oder Ideengeber für andere Fate-Spiele.

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