Das Fegefeuer
Zunächst konnte man am nördlichen und südlichen Horizont lediglich helles Leuchten erblicken. Und was zu Beginn noch wie ein höhnischer Hoffnungsfunken gehandelt wurde, entpuppte sich bald zum Auftakt des schlimmsten Schreckens, das die Menschen je erleben musste.
Es geschah zuerst am Nord- und Südpol, dass die Erde aufbrach und Flammensäulen bis in den Himmel spie. Die Hitze dieser Urgewalten verbrennt das umliegende Land, schmilzt das Eis, verheert Wälder und Wiesen, lässt Wasser zischend verdampfen und zerfrisst alles, was der Herr in seiner Güte einst erschaffen hat. Und mehr noch: Diese Flammensäulen wandern vorwärts. Unaufhaltsam ziehen sie ihre tödlichen Pfade über das Land und niemand vermag zu sagen, welchen Weg sie einschlagen.
Bis zu mehrere Kilometer sind diese Fanale breit und nichts widersteht ihrem Nahen. Noch bevor die Flammen tatsächlich nah sind, versengt die brennende Hitze jedes Leben. Selbst das Land scheint aufzuschreien. So ziehen im Umfeld eines solch gigantischen Feuers Gewitter auf, Hagel fällt vom Himmel, oder etwas tief in der Erde Verborgenes vergeht und reißt mit einer gewaltigen Explosion Schluchten in den geschundenen Boden.
Es ist nicht verwunderlich, dass einem Fegefeuer schon lange ein Flüchtlingsstrom vorauseilt, der versucht, so viel von seinem Hab und Gut fortzubringen, wie er kann ‒ denn in eine verheerte Stadt wird niemand jemals zurückkehren können.
Die Wege der Fegefeuer sind unvorhersehbar und auch die Geschwindigkeit nicht konstant. Das Einzige, das bisher sicher beobachtet werden konnte ist, dass nach einem Richtungswechsel der Flammensäulen die Geschwindigkeit regelmäßig zunimmt.
Die Pein blieb allerdings nicht nur bei den beiden Fegefeuern der Pole. Mit der Zeit taten sich neue auf, die das Europa des 27. Jahrhunderts strikt begrenzen und ein Erkunden der umliegenden Kontinente unmöglich gestalten. Außerdem gibt es kleine Feuer, die plötzlich und unvorangekündigt aufflammen, aber ebenso schnell auch wieder erlöschen. Der Schaden, den sie hinterlassen, ist nicht weniger tragisch, aber die Erleichterung, wenn eines dieser Feuer versiegt, ist unbeschreiblich.
Das Brandland
Doch der Weg, den solch ein Fegefeuer nimmt, steht nicht endlos in Flammen. Ist das Land erst einmal zerstört, steigt aus ihm giftiger Dampf auf, der die Sicht behindert. Man nennt diese Landstriche Brandland. Nicht wächst mehr dort, Tiere vergehen und Wasser verfärbt sich tiefschwarz. Kommt ein Mensch diesem Rauch zu nahe, ist der Erstickungstod noch der gnädigste Weg, den er gehen kann. Schon im Umland des Brandlandes weht der Wind die Ausdünstungen mit sich. Viele berichten von Stimmen, die sie hören oder Erscheinungen, die sie verwirren, bis sie schließlich dem Wahnsinn anheim fallen.
Die Brandlandführer
Alles in allem also halten sich die wenigsten Menschen freiwillig in der Nähe dieses Landes auf. Einige aber erkannten genau hier ihre Gelegenheit, Geld zu verdienen. Diese kühnen und wahnwitzigen Männer und Frauen nennen sich Brandlandführer ‒ obgleich sie äußerst selten tatsächlich Fremde mit in das Land führen. Viel mehr versprechen sie sich dort Entdeckungen und Hinterlassenschaften, die sie gewinnbringend verkaufen können. Ausgerüstet mit klobigen Atemmasken und luftdichter Kleidung gelingt es aber selbst diesen Menschen nicht, das Brandland zu durchqueren. Ihre Wege sind oftmals kurz und kreuzen wenig mehr als den Rand dieser Lande.
Die Traumsaat
Als wären die zerstörerischen Ausmaße der Fegefeuer nicht schon genug Pein für das gebeutelte Europa, so entsteigen den hinterlassenen Brandlanden die insektoiden Kreaturen, die die Menschheit Traumsaat nennt ‒ oder schlichtweg Dämonen. Diese Monstren scheinen in dem beißenden Rauch des Brandlandes zu gedeihen und zu wachsen. Auch die vorherrschende Dunkelheit beraubt sie ihrer Sinne nicht. Von den Korridoren des Brandlandes aus ziehen sie auf Geheiß des Herrn der Fliegen, dem Widersacher allen Lebens, in Schwärmen hinaus in die Lande, um Schrecken und Verderben zu verbreiten.
An Gestalt und Größe gibt es nichts, das vielfältiger sein könnte als die Diener des Widersachers. Ob sie käferartig und mit einem harten Panzer und scharfen Sicheln ausgestattet sind, winzig klein und sich wie Blutegel an der Haut festsetzen oder als gigantische Ausgeburten verschmolzener Körper erscheinen, alles ist wohl bei diesem Gezücht denkbar, denn sie ist das, was ihr Name sagt: die Saat der schlimmsten Träume der Menschen, die durch den Herrn der Fliegen, eine Gestalt verliehen bekommt.
Bisher konnte man beobachten, dass die Traumsaat eine Art kollektiven Bewusstseins zeigt. Auch die Fähigkeiten zur Tarnung und Täuschung sind gegeben, dafür aber keine Form der menschlichen Intelligenz.
Die Versuchten
Anders ist es bei den Versuchten. Diese bemitleidenswerten Kreaturen waren einst sehr wohl Menschen, die jedoch durch zu viel Kontakt zur Sünde, dem Brandland oder Traumsaat dem Widersacher verfallen sind. Nun hören sie seine Einflüsterungen und erhalten dunkle Befehle, derer sie sich nicht erwehren können. Obwohl das Bewusstsein des menschlichen Körpers im Grunde erhalten bleibt, rücken doch viele der Emotionen in den Hintergrund und werden von dem Willen des Herrn der Fliegen unterdrückt. Mit der Zeit ist es auch möglich, dass sich der Körper des Menschen auf groteske Weise verformt und sich dem einer Traumsaatkreatur angleicht. Die Geschenke des Verderbers sind mannigfaltig und erlauben einigen von ihnen, Feuer zu speien oder gar zu fliegen.
Die Kirche versucht bis heute geheim zu halten, dass nicht einmal jeder Engel den süßen, verlockenden Worten des Widersachers gefeit ist…