Wearing the Cape #5: Nötige Sekundärkraft – ein Faktor für Superhelden

Gelegentlich finden meine Mitmenschen eine geschickte Methode, mich als schwer zu bezeichnen. Wenn zum Beispiel ein Holzdübel nach unten in eine Bohrung geschoben werden soll, bitten sie um meine Hilfe mit dem Argument, ich sei stärker. Das ist zwar richtig, aber egal. Die maximale Kraft, die ich nach unten aufwenden kann, ist gleich meiner Gewichtskraft. Alles, was darüber hinaus geht, drückt nicht den Dübel nach unten, sondern hebt mich in die Luft. Dass ich besser als meine Frau darin bin, Sachen nach unten zu drücken, liegt daran, dass ich schwerer bin als sie.

Warum erzähle ich das hier? Weil es auch im Rollenspiel eine große Rolle spielt (vor allem bei Superhelden). Ein Held mit übermenschlicher Stärke aber menschlicher Masse, sollte vor allem sich selbst durch die Gegend bewegen. Wenn er einen Findling in die Höhe stemmt, sollte das ganze Gewicht auf seinen Fußflächen einen so großen Druck bewirken, dass viele Untergründe einfach nachgäben. Egal, wie stark er ist, auf ebener Erde sollte er nur so schnell beschleunigen können, wie die Haftreibung seiner Schuhe zulässt, bevor diese wegrutschen wie durchdrehende Reifen. Aber all dies passiert in Superheldengeschichten nicht.

Diese Ungereimtheiten beschränken sich auch nicht Bewegungsfähigkeiten. Warum kann ein geschrumpfter Superheld weiterhin Sauerstoffmoleküle normaler Größe atmen? Wie schneidet sich ein Unverwundbarer die Haare? Wer durch Wände gehen kann, fällt nie durch den Boden.

Ich denke, das Prinzip ist klar. Was hier vorliegt, ist der Effekt davon, extreme Setzungen mit dem Rest der Spielrealität in Einklang zu bringen. In so komplexen Systemen kann man schwerlich einen einzelnen Faktor verändern, ohne dass es andere Eigenschaften mit beeinflusst.

 

Es sei denn, man gleicht die Nebenwirkungen irgendwie aus. Und genau darum soll es in diesem Artikel gehen: Um diese Nötigen Sekundärkräfte, die die Macht der Superhelden funktionieren lassen. (TV Tropes bezeichnet diese als „Required Secondary Powers“.) Denn wie man diese umsetzt, verdient im Rollenspiel sehr viel mehr Aufmerksamkeit als in Film, Roman oder Comic.

Der große Unterschied zwischen Comics, Romanen und Film auf der einen Seite und Rollenspielen auf der anderen Seite besteht darin, ob die Hauptfiguren einen eigenen Kopf haben. Ein Autor kann einfach festlegen, dass eine Superkraft funktioniert, wie er das möchte. Und die Nebeneffekte muss er nie zum Thema machen.

Im Rollenspiel sieht das ganz anders aus. Um vernünftig Entscheidungen treffen zu können, muss ein Spieler eine Vorstellung davon haben, wie die Spielwelt funktioniert – was überhaupt möglich ist und was für Folgen seine Handlungen haben könnten. Vor allem aber kommt es ja angeblich vor, dass Spieler bei der kreativen Problemlösung Logiklücken bis zum Äußersten ausbeuten wollen.

Es gibt prinzipiell zwei Ansätze, mit diesem Komplex umzugehen: Entweder sind die Nötigen Sekundärkräfte einfach Teil der Kräfte selbst oder sie sind tatsächlich separate Fähigkeiten, die also beispielsweise abgeschaltet werden können oder unabhängig von der Primärkraft zum Einsatz kommen können.

Gerade in letzterem Fall wird es spannend. Wenn die Supergeschwindigkeit die Knochen einfach nicht bricht, dann ist das ein netter Aspekt. Aber wenn der Held auch von kilometerhohen Türmen springen kann, weil die Kräfte, die beim Aufprall auftreten, viel kleiner sind als die extremen Beschleunigungskräfte, dann kann der Charakter plötzlich ganz neue Dinge vollbringen. Und genau deshalb sollte man sich vor dem Spiel über den Umgang mit Nötigen Sekundärkräften austauschen. Denn es geht hier um große Macht. Und am Spieltisch folgt aus größer Macht großer Diskussionsbedarf.

Deshalb sollen hier ein paar Kategorien von Nötigen Sekundärkräften kurz angerissen werden. Der Sinn dieses Artikels mag erscheinen, sich über das Superheldengenre lustig zu machen. Das ist aber wirklich nicht das Ziel. Es geht darum, Frust am Spieltisch zu vermeiden, indem sich frühzeitig alle einig sind, was für Möglichkeiten ein Superhelden-SC so hat.

 

Mechanische Kräfte

Wie uns Newton lehrte: Aus großer Kraft folgt auch große Gegenkraft – actio gleich reactio. Wenn jemand ein Auto hochstemmt, dann ist die Kraft, mit der er das Auto bewegt, gleich der Kraft, die auf seinen Körper wirkt. Das sollte die Knochen brechen, den Boden belasten und den Helden auch durch die Gegen bewegen (so er die Kraft nicht orthogonal zum Boden ausübt).

Die Fähigkeit, diesen Effekt abzuschalten, hätte interessante Nebenwirkungen. Man sollte z. B. ein Fahrzeug beschleunigen können, ohne die Räder zu bewegen oder etwas wegzustoßen. Das Perpetuum Mobile aus Jim Knopf tut genau das – es erzeugt Bewegung aus dem Nichts, weil es „actio gleich reactio“ verletzt. Man sollte Gegner ausschalten können, indem man die Trägheit der Flüssigkeit in den Bogengängen deaktiviert. Dadurch würde das Gleichgewichtsorgan seine Funktion verlieren und dem Opfer würde sofort schwindeliger als in einer Achterbahn.

Und wie gut kann man damit eigentlich Projektile beschleunigen?

 

Teleportation und Hervorrufung

Eine Alternative zur massiven Beschleunigung besteht darin, sich einfach zu teleportieren. Wobei „einfach“ hier ein diskussionswürdiges Wort ist.

Schon die Frage, ob man mehr als den eigenen Körper transportieren kann, ist relevant. Ist der Charakter nach jedem Sprung nackt? Wenn nicht, dann kann er offensichtlich zumindest seine Klamotten mitnehmen. Sobald man diesen Fakt schafft, stellt sich aber sofort die Frage, ob man auch Teile des eigenen Körpers zurücklassen könnte (nützlich, um seinen Tod vorzutäuschen oder sich schmerzfrei die Beine zu enthaaren) oder auch Objekte bewegen kann, ohne selbst mitzukommen. Kann man damit einen Feind in einen Berg oder in Kilometerhöhe teleportieren? (Im Notfall, indem man ihn mitnimmt und dann ohne ihn wieder zurück teleportiert.) Kann man einen Fremdkörper in die Adern seines Gehirns schicken, um ihn per Schlaganfall zu töten?

Und was ist eigentlich mit der Luft? Löst man eigentlich eine Stoßwelle aus, wenn man irgendwo erscheint, und eine Implosion, wenn man verschwindet? Eigentlich sollten jedes Mal die Scheiben bersten, wenn ein Superheld teleportiert. Selbst wenn die Volumina miteinander vertauscht werden (das heldenförmige Luftvolumen des Zielortes erscheint am Ursprungsort), löst das das Problem nur bedingt. Was ist, wenn der Luftdruck an beiden Orten deutlich unterschiedlich ist? Kann ich mich oder ein Objekt aus dem Wasser unter einem Boot verschwinden lassen? Plötzlich einen großen Batzen Luft unter dem Rumpf zu haben, könnte das Wasserfahrzeug locker versenken.

 

Mit ähnlichen Problemen sieht man sich konfrontiert, wenn es um die Hervorrufung geht, also das Erschaffen auf die Distanz. Die beliebteste Form dieser Macht ist die Fähigkeit, Feuer aus dem Nichts zu erzeugen oder zu kontrollieren und absurd zu vergrößern. Entgegen der altgriechischen Vorstellung ist Feuer eben kein Element, sondern ein Prozess, der Stoffe umwandelt. Wo kommt der Brennstoff her? Kann man den auch erschaffen, ohne ihn zu entzünden? Kann ein Held oder Schurke ihn im Körper eines Gegners erscheinen lassen? Kann er gar Dinge in Brand setzen, die eigentlich nicht entzündlich sind? Dann müsste er irgendwie das Material in Brennbares überführen. Außerdem besteht natürlich auch eine Flamme aus Materie, die irgendwo herkommen muss.

Andere Formen der Hervorrufung können ebenso mächtig sein. Selbst die niedliche Fähigkeit, aus dem Nichts flauschige Kätzchen zu erschaffen, ist nicht mehr lustig, wenn man es in jemandes Lunge tut oder damit einen Tresor von innen sprengt oder geschlossene Räume mit so vielen Kätzchen füllt, dass der gesamte Sauerstoff innerhalb von Minuten verbraucht ist.

Und überhaupt, was passiert eigentlich mit der Luft, die die erscheinenden Katzen verdrängen? (siehe oben)

 

Licht und Strahlung

In dieser Kategorie fallen vor allem die seltsamen Eigenarten der Augen vieler Superhelden. In natürlicher Umgebung sind Röntgenstrahlen tatsächlich sehr wenig anzutreffen. Ein Röntgenblick sollte fast nichts erkennen können. Wenn der Held aber irgendwie trotzdem genügend damit sehen kann, muss er auch irgendwie Röntgenphotonen erzeugen. Wenn er aus der Ferne Strahlungsquellen hinter den Objekten erzeugen könnte, die er durchleuchten will, wäre das schon eine mächtige Fähigkeit. Strahlt der Held die Strahlung irgendwie selbst aus und schaut sich die Rückstreuung an, wäre das noch viel gefährlicher. Denn die Rückstreuung von hochenergetischen Photonen ist sehr gering, so dass die nötigen Strahlungsmengen enorm wären. Ein kurzer Blick durch den Raum hätte bereits Strahlenschäden bei allen Personen darin zur Folge.

 

Andererseits scheint es Superhelden zu geben, die irgendwie ohne Licht sehen können. Sonst wären Unsichtbare nämlich blind. Wenn das Licht nicht mehr mit der Netzhaut wechselwirkt (sei es, weil es einfach ungehindert hindurchgeht oder weil es um den Helden herumgeleitet wird), dann sollte die Person vollkommen blind sein. Vielleicht kann sie unerklärterweise trotzdem sehen. Dann stellt sich aber natürlich die Frage: Wenn der Held auch andere Personen unsichtbar machen kann, kann er sich dann auch dafür entscheiden, sie blind zu lassen? Wäre keine geringe Macht.

Das sind also Fälle, in denen Strahlung indirekt von Bedeutung sind. Die direkte Herrschaft über das Licht hätte noch einen ganz abgefahrenen Nebeneffekt: Photonen sind jene Teilchen, die die elektromagnetische Wechselwirkung vermitteln. Will heißen: Wer sie beherrscht, könnte eine Fundamentalkraft des Universums nach seinem Willen formen. Die Möglichkeiten sind hier fast endlos. Man denke allein an das Szenario, die elektrostatische Kraft einfach kurzzeitig abzuschalten. Dann stießen sich Atomkerne nicht mehr gegenseitig ab, so dass alle leichtere Elemente sofort anfingen, Kernfusion zu durchlaufen. Und die nicht mehr gebundenen Elektronen flögen als Beta-Strahlung durch die Gegend. Kabumm!

 

Ökonomie

Eine Macht beachteten wir bisher noch gar nicht, auch wenn sie direkt aus den übermenschlichen Fähigkeiten folgt: Die meiste Taten, die Superhelden so vollbringen können, sind nicht nur beeindruckende Leistungen. Es wären auch wertvolle Dienstleistungen. Zwar zerstören Superhelden in ihren Kämpfen auch gerne mal sämtliche Architektur um sie herum, aber sie sollten eigentlich auch enorme Gewinne erwirtschaften können. Für jemanden wie Superman sollte es gar kein Problem sein, die Geretteten je nach ihrem Reichtum zur Kasse zu bitten – der arme Schlucker müsste nichts zahlen, aber der gerettete Milliardär dürfte auch gerne mal ein paar Millionen abdrücken.

Angeblich tut Superman das nicht, weil er nur das Gute tun will und nicht durch Geld motiviert ist. Leider ergibt das wenig Sinn. Im Kapitalismus kostet das Gute Geld. Er könnte einfach keinen Cent für sich behalten und alles spenden, um den Hunger in Afrika zu bekämpfen oder sich weltweit für Frauenrechte einzusetzen oder Ähnliches. Kostenlos zu retten, ist nicht das optimale Handeln und nicht das größte Gute. Das soll hier nicht Superman kritisieren, sondern zeigen, warum man sich im Rollenspiel frühzeitig darüber Gedanken machen sollte. Denn ein SC kann sich anders entscheiden, wenn der Spieler das möchte. Und dann wäre das Spiel plötzlich ein ganz anderes.

Denn die wirtschaftliche Macht von Superhelden betrifft bei Weitem nicht nur so übermächtige Figuren wie Superman. Auch viel geringere Mächte könnte enormen Marktwert haben. Wer auch nur wenigen Sekunden in die Zukunft schauen kann, könnte mit der richtigen Technik Milliarden an den Börsen der Welt machen.

Noch extremer wird es, wenn man nicht in der Jetztzeit spielt, sondern in der Vergangenheit, in der die Wirtschaftsleistung der Restbevölkerung ja noch viel kleiner war. Im Feudalismus (dessen Macht auf Landbesitz und Agrarproduktion basiert) ist die Fähigkeit, Kätzchen aus dem Nichts zu erschaffen (die man trotz Niedlichkeit essen und zu Pelz verarbeiten kann) im wahrsten Sinne Gold wert. Und sie bedeutet militärische Macht, weil eine Armee auf ihrem Magen marschiert.

Und wer Insekten und Gliedertiere beherrschen kann, wäre während der Pestwellen der größte Heilsbringer Europas gewesen, denn die Pest wird durch Flöhe übertragen. (Und die Malaria übrigens durch Mücken – auch heute noch wertvoll.)

 

Fazit

Wenn es um Nötige Sekundärkräfte geht, gilt wie so oft: Vorsorge ist besser als Nachsorge.

 


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